Einleitung
Als Vielreisender ist man versucht zu glauben, man habe schon alles gesehen – bis man in Irkanien ankommt.
Ich habe sieben Tage lang Städte, Dörfer, Inseln und Ebenen durchquert, und überall stieß ich auf eine Mischung aus straffer Ordnung und unerwarteter Offenheit.
Was in Nugensil oder anderswo endlose Debatten auslösen würde, ist hier Alltag.
Was anderswo als „Freiheit“ gefeiert wird, kommt hier aus einer Quelle, die nicht zur Abstimmung steht.
Dies sind meine Notizen, Tag für Tag, so, wie ich sie vor Ort aufgeschrieben habe.
Tag 1 – Ankunft in Irkania Stadd

Der Anflug auf Irkania Stadd ist wie ein langsames Eintauchen in ein Poster. Unter mir: grün schimmernde Halbinseln, Küstenstraßen wie Linien auf einer Landkarte, und dann plötzlich diese gewaltige Stadt, die vom Wendekreis zerschnitten wird. Alles wirkt geometrisch geplant und gleichzeitig voller kleiner, zufälliger Farbkleckse – Dächer, Marktstände, Schiffe.
Am Flughafen beginne ich den „Kontakt mit dem System“, wie es der Beamte von der Botschaft in Forwålde genannt hatte. Schon beim Aussteigen fallen mir die Kameras auf, die wie freundliche Augen jede Bewegung verfolgen. Ich folge der Ausschilderung „Ausländische Einreise – ASIN-Ausgabe“, und eine Frau in dunkelblauer Uniform mit goldenen Abzeichen deutet mir mit einem leichten Kopfnicken den Platz vor einem Schalter. Das Gespräch ist formell, aber nicht unfreundlich.
„ASIN“, sagt sie, als wäre das Wort eine Eintrittskarte. „Dauer des Aufenthalts?“
Ich nenne meine Woche, sie scannt meinen Pass, macht ein Foto, druckt eine Karte aus, die metallisch glänzt. „Immer bei sich tragen.“ Keine Erklärung, wofür. Vermutlich für alles.
Der Weg ins Stadtzentrum führt über eine breite, mehrspurige Straße, gesäumt von Bannerflaggen in Grün, Schwarz und Rot. Im Hintergrund sehe ich monumentale Gebäude, jedes so sauber, dass es wie neu wirkt. Taxis fahren leise – Elektroantrieb, nehme ich an –, und ihr Fahrstil ist überraschend höflich. Mein Fahrer spricht kein Nogskspråk, kaum Englisch, aber versteht mein „Irkania stadd sentrum“ und wiederholt es in einem melodischen, langsamen Irkisch. Die Aussprache ist weich, fast gesungen. Ich probiere ein Dankeschön: „Dus“, und er nickt zustimmend.
Das Hotel liegt am Rand einer AAA-Zone. Schon an der Straßenecke stehen zwei Patrouillen, eine Drohne schwebt träge über der Kreuzung. Trotzdem ist die Stimmung nicht angespannt; die Passanten gehen gelassen vorbei, einige grüßen die Wachen beiläufig. Was mich sofort überrascht: Uniformen tragen Männer, Frauen, und mindestens eine Person, bei der ich es nicht einordnen kann – niemand scheint sich daran zu stören oder es überhaupt zu bemerken. In Nugensil wäre das zwar theoretisch auch kein Thema, aber hier wirkt es so selbstverständlich, dass es gar nicht kommentiert wird.
Am Abend spaziere ich durch das Regierungsviertel. Die Architektur ist eine Mischung aus klassischem Monumentalstil und modernen Fassaden, in denen sich das Licht der Straßenlaternen spiegelt. Zwischen den Gebäuden: kleine Teestuben mit offenen Türen. Ich trete in eine, mehr aus Neugier als wegen des Getränks. Innen riecht es nach Jasmin und Rauch. An einem Tisch sitzt eine ältere Frau mit einem jungen Mann in Uniform; sie trinken aus kleinen Schalen und sprechen leise. Als ich meinen Tee bekomme – schwarz, mit einem Schuss verdünnten Ananassafts – nickt mir der Wirt zu, als hätte er mich schon erwartet.
Zurück im Hotel schreibe ich meine ersten Notizen. Der erste Eindruck: Diese Stadt ist streng organisiert, ja. Aber nicht kalt. Die Menschen bewegen sich wie Zahnräder in einer gut geölten Maschine, und doch ist da Platz für kleine, leise Momente. Ich bin gespannt, ob es so bleibt.
Tag 2 – Genepohl
Der Morgen beginnt damit, dass ich vergesse, meine ASIN im Hotel mitzunehmen. Ein Anfängerfehler. Schon auf dem Weg zum Bahnhof stoppt mich ein junger Wachmann an einer Straßensperre. Er lächelt, bittet höflich um die Karte – und zieht eine Augenbraue hoch, als ich in meinen Taschen krame. „ASIN“, sagt er nur, und es klingt nicht drohend, sondern eher so, als würde er fragen, ob ich meinen Regenschirm vergessen habe. Ich eile zurück, hole die Karte, und lerne: in dieser Stadt kann man ohne Wasserflasche herumlaufen, aber nicht ohne Identität.
Der Schnellzug nach Genepohl ist kühl klimatisiert und fast leer. Draußen zieht Jadaria vorbei: flache Ebenen, gesäumt von kleinen Feldern, dann plötzlich riesige Industrieanlagen, die wie Raumschiffe aus Beton wirken. Am Stadtrand von Genepohl leuchtet der Himmel in einem künstlichen Neonrosa – der Reflex der Werbeflächen, die an den Türmen der Megakonzerne hängen. BEL Industries, X Corporation, Namen, die in Nugensil bestenfalls als Schreckgespenster in Debatten auftauchen, hier in dreißig Meter hohen Lettern.
Die Innenstadt ist ein permanenter Energiestoß. Bildschirme an Fassaden spielen Nachrichten, Musikvideos, Werbung. Zwischen den Hochhäusern drängen sich Streetfood-Stände: dampfende Töpfe, gebratener Fisch, ein Stapel Brote, in die Lachs oder Thunfisch mit Reis gefüllt werden – Galot und Bralot, lerne ich. Ich bestelle ein Bralot, und die Verkäuferin, eine schlanke Frau mit kurz geschorenen Haaren und militärischer Kappe, fragt lachend, ob ich „den echten“ oder die „Touristenvariante“ will. Ich nehme das echte. Fehler. Die Chilischärfe ist so massiv, dass ich husten muss, woraufhin sie mir einen Becher süßlichen Zuckerbeerensaft reicht, ohne eine Miene zu verziehen.
An einer Straßenecke steht ein improvisierter Stand mit alten Vinylplatten, betrieben von einem Offizier in Freizeitkleidung. Seine Tattoos reichen bis zum Hals, und er trägt ein helles Sommerkleid mit groben Militärstiefeln. Niemand beachtet es. Wir kommen ins Gespräch – oder eher: ich höre zu. Er erzählt von seiner Einheit, vom ständigen Wechsel zwischen Auslandseinsätzen und „normalem Leben“. Das Kleid sei bequem, und bequeme Kleidung mache einen besseren Menschen. Ich weiß nicht, ob er das ernst meint.
Am Nachmittag gerate ich in ein Viertel, das offiziell eine A-Zone ist: weniger Kameras, kaum Patrouillen, dafür mehr Musik und offene Fenster. Kinder spielen zwischen den Marktständen, zwei ältere Männer sitzen im Schatten und spielen Karten, während ein junger Mann mit langen Zöpfen und bunter Weste ihnen Getränke bringt. Das alles wirkt spontan, fast anarchisch – und doch ist klar, dass hier immer noch Regeln gelten, nur eben andere. In Nugensil wäre das eine entspannte Sommerstraße. Hier ist es der sichtbare Beweis, dass es zwischen AAA und Z noch viele Graustufen gibt.
Als die Sonne untergeht, spiegelt sich das Neon in den feuchten Straßen. Die Hitze lässt nach, ersetzt durch eine warme, träge Luft, die nach gebratenem Fisch und süßem Tee riecht. Auf dem Rückweg zum Bahnhof denke ich darüber nach, wie schwer es ist, Irkanien in eine Schublade zu stecken: Einerseits dieser eiserne Griff von Überwachung und Organisation, andererseits diese mühelose Freiheit in Dingen, über die man bei uns endlos debattieren würde. Hier zieht einfach jeder an, was er will – und es ist niemandes Thema. Vielleicht ist genau das der Grund, warum es funktioniert.
Tag 3 – Frisa-Ebene
Der Tag beginnt in einem Zug, der älter wirkt als der gestern nach Genepohl – kein glatter Hochgeschwindigkeitskörper, sondern etwas mit kantigen Sitzen, offenen Gepäckablagen und Ventilatoren an der Decke. Die Klimaanlage existiert, aber sie scheint den Kampf gegen die morgendliche Wärme verloren zu haben. Der Schaffner kontrolliert meine ASIN, notiert sie in einem kleinen Terminal und wünscht mir dann „einen guten Tag im Kornland“. Es klingt fast wie ein Slogan.
Frisa empfängt mich mit einem Horizont, der mehr Himmel als alles andere ist. Felder in sattem Gold, dazwischen Windmühlen und Bewässerungssysteme, die das Sonnenlicht wie Glasblitze reflektieren. Es ist Erntezeit. Auf den Feldern arbeiten Männer, Frauen, und auch einige, die ich nicht in eine Schublade bekomme – alle in denselben lockeren Arbeitshemden und Strohhüten. Hier gibt es keine Uniformen, aber trotzdem eine klare Ordnung: Jeder weiß, was er zu tun hat, und es wird gearbeitet, bis die Sonne direkt über den Köpfen steht.
Ich bin in einem Klan-Blok untergebracht, der aussieht wie ein kleines Dorf. Ein langer Gemeinschaftsbau mit Küche, Speisesaal und Wohnräumen, daneben kleinere Häuser für Familien. Die Bewohner gehören dem Klan harbidden an, der in Nugensil oft nur als „unpolitisch“ beschrieben wird. Was man von außen nicht sieht: Unpolitisch heißt hier nicht unbeteiligt. Beim Mittagessen – Rindssteak, Reisbällchen, ein Stück frisches Brot – diskutieren die Leute lebhaft über Preise, Erntequoten, Maschinenersatzteile. Politik im eigentlichen Sinn kommt nicht vor, aber alles dreht sich um die Bedingungen, unter denen sie arbeiten.
Die Gastfreundschaft ist echt, das Essen reichlich, doch das Leben hier ist hart. Die Felder sind groß, die Hitze unnachgiebig, und viele Maschinen wirken, als hätten sie schon Jahrzehnte hinter sich. Ich frage einen älteren Mann, warum man sie nicht ersetzt. „Weil das Geld nicht einfach so vom Himmel fällt“, sagt er trocken. Ersatzteile sind teuer, neue Maschinen noch mehr – und wenn die alte Technik noch läuft, dann läuft sie eben. Für jemanden aus Nugensil klingt das nach ständiger Improvisation, für ihn ist es schlicht der normale Rhythmus eines privaten Klanbetriebs, der mit dem arbeiten muss, was vorhanden ist.
Am Nachmittag setze ich mich in den Schatten einer alten Ulme, während Kinder auf dem staubigen Platz vor dem Blok spielen. Niemand fragt nach meinem Pass oder meiner ASIN, niemand kümmert sich darum, dass ich fotografiere. Die soziale Nähe hier ist spürbar – man kennt sich, man hilft sich. Aber die Gespräche, die ich am Rand aufschnappe, drehen sich immer wieder um praktische Sorgen: ob der nächste Regen rechtzeitig kommt, wie man die Ernte am schnellsten zum Markt bekommt, wer noch Diesel für den Traktor übrig hat. Selbst in diesem offenen, fast idyllischen Umfeld hängt alles davon ab, dass Wetter, Maschinen und Lieferwege mitspielen – und das tun sie nicht immer.
Als die Sonne sinkt, sitzen wir alle draußen. Gegrilltes Fleisch, frisches Gemüse, ein Krug Wochen-Met. Die Hitze weicht einer milden Brise, und für einen Moment könnte man glauben, dass dies einfach nur ein ruhiger Ort irgendwo auf der Welt ist. Doch als ich später in meinem Zimmer einschlafe, höre ich aus der Ferne das tiefe Brummen eines Überwachungsflugzeugs. Es zieht vorbei, und das Dorf bleibt still.
Tag 4 – Insel Eula
Der Flug nach Eula startet früh, noch bevor die Sonne den Asphalt der Startbahn in Irkania Stadd in eine glühende Platte verwandelt. Die Maschine ist klein, das Triebwerk brummt wie eine übermüdete Hummel, und der Innenraum heizt sich trotz laufender Klimaanlage schnell auf. Eula liegt südwestlich von Jadaria – zwei Stunden über dem Asurik, vorbei an verstreuten Inseln, deren Strände aus der Höhe wie helle Ränder um grünes Glas wirken.
Schon beim Aussteigen fällt auf, dass der Flughafen eher eine befestigte Landebahn mit angehängtem Gebäude ist. Die Luft ist feucht, schwer, und riecht nach Salz und Tee. Direkt hinter der Ankunftshalle kontrollieren uniformierte Beamte die ASINs aller ausländischen Passagiere. Nicht unfreundlich, aber gründlich. Das Protokoll ist klar: Wer hier landet, wird registriert, egal, ob er nur ein paar Stunden bleibt.
Die Fahrt zu den Teeplantagen führt durch hügeliges Land. Am Straßenrand wachsen Mangobäume, und zwischen ihnen glitzern kleine Wasserläufe. Die Plantagen selbst sind ein geometrisches Wunder: gleichmäßige Reihen aus tiefgrünen Sträuchern, die sich die Hänge hinaufziehen. In der Ferne beginnt der Regenwald, eine dichte, dunkelgrüne Wand, die im Dunst verschwimmt.
Mein Gastgeber ist Teil eines Klanbetriebs, der seit Generationen Tee anbaut. Er trägt ein leichtes Baumwollhemd, spricht leises Irkisch und wechselt zwischendurch ins Englische, wenn mir der Faden reißt. Vor der eigentlichen Arbeit des Pflückens führen mich zwei junge Frauen in einen schattigen Pavillon am Rand des Feldes. Dort beginnt die Teezeremonie – eine Mischung aus Tradition und Alltag: leise Bewegungen, sorgfältig gefaltete Tücher, das dünne Porzellan der Schalen. Das Gespräch fließt mühelos zwischen Ernteerträgen, Familiengeschichten und – beiläufig – persönlichen Identitäten. Eine der beiden spricht offen darüber, dass sie ihre Kleidung und ihren Namen vor ein paar Jahren geändert hat. Niemand am Tisch reagiert überrascht oder interessiert; es ist einfach Teil ihres Lebens.
Am Nachmittag fahren wir in den Regenwald. Schon wenige Meter abseits der Straße wird es dunkel, kühl und feucht. Vögel rufen in kurzen, klaren Lauten, und irgendwo weiter oben klappert eine Affengruppe in den Ästen. Die Schönheit ist überwältigend – aber auch fragil. Mehr als einmal weist mich der Führer darauf hin, welche Flächen in den letzten Jahren von illegalen Holzfällern angegriffen wurden. Die Behörden reagieren, aber auf einer Insel mit begrenzten Ressourcen ist nicht alles zu schützen.
Als wir zurückkehren, liegt über den Feldern ein goldener Schein. Die Erntekörbe sind voll, und der Geruch von frischem Tee hängt in der warmen Luft. Ich verabschiede mich mit einer Tüte Blätter, die noch leicht feucht vom Pflücken sind. Der Rückflug wird erst morgen früh gehen – heute Nacht bleibe ich in einem Gästezimmer direkt an den Plantagen. Draußen zirpen Insekten, drinnen kühlt ein Ventilator die stickige Luft nur langsam. Eula ist wunderschön, aber sie vergisst nie, einem zu zeigen, dass Schönheit hier auch Arbeit bedeutet.
Tag 5 – Braadhafen
Braadhafen liegt am Rand der Karte, und ehrlich gesagt fühlt es sich auch so an. Der Bus von der Fähre hält vor einem niedrigen Betonbau mit dem Schild „Zentralpier“. Dahinter: zwei lange Kaianlagen, ein paar Fischerboote, ein Versorgungsschiff, und viel Himmel. Die Hitze ist auch hier allgegenwärtig, nur unterbrochen vom salzigen Wind, der über die Mole streicht.
Das Leben läuft langsam. Am Vormittag schlendere ich an den Docks entlang, vorbei an Stapeln von Fischkisten, Netzen, leeren Kanistern. Ein alter Mann flickt schweigend ein Netz, ein Junge sitzt daneben und liest aus einem zerknickten Heft. Ich frage, wo ich etwas essen kann, und werde zu „den Vier von Haus 17“ geschickt.
Haus 17 ist ein zweigeschossiger Bau am Ende einer Seitenstraße. Das Erdgeschoss riecht nach gebratenem Fisch und warmem Brot. Drinnen sitzen vier Menschen um einen großen Tisch: eine Frau mit kurzen grauen Haaren, eine jüngere mit lockigen braunen, ein breitschultriger Mann mit Sonnenbrand, und ein schmaler, der aussah, als wäre er gerade vom Boot gekommen. Sie begrüßen mich, als sei ich ein erwarteter Gast, und schieben mir einen Teller zu, noch bevor ich meinen Namen gesagt habe.
Im Gespräch fällt mir zuerst nichts Besonderes auf. Erst später, beim Tee, rutscht es beiläufig heraus: die beiden Frauen sind seit Jahren ein Paar. Der breitschultrige Mann und der schmale gehören nicht „dazu“ im romantischen Sinn, wie die grauharige Frau lachend klarstellt. Sie alle leben zusammen, weil es praktischer ist – Kosten teilen, Arbeit teilen, Verantwortung teilen. „Bindung“, sagt sie, als hätte sie das schon tausendmal erklärt. Kein großes Wort, eher eine Tatsache, wie „wir haben einen Hund“.
In Nugensil würde so etwas auf Partys für Gesprächsstoff sorgen. Hier in Braadhafen ist es Alltag. Ihre Bindung ist registriert, sie haben denselben Nachnamen auf dem Briefkasten, und wenn einer von ihnen krank ist, darf jeder im Krankenhaus Entscheidungen treffen. „Macht das Leben einfacher“, sagt der schmale Mann, „und das Gesetz sagt ja, warum nicht?“
Am Nachmittag gehe ich zum Pier zurück. Die Sonne steht tief, und das Wasser glitzert zwischen den Booten. Es gibt hier kein Nachtleben, keine Neonlichter, keine Märkte wie in Genepohl – nur den Wind, den Geruch von Salz und Fisch, und ein paar Stimmen, die von den Booten herüberwehen. Braadhafen ist kein Ort, an den man kommt, um zu staunen. Aber es ist einer, an dem man schnell versteht, wie Irkanien funktioniert: Menschen finden Strukturen, die für sie passen, und der Staat lässt sie in Ruhe – solange sie ihre Netze flicken und ihre Arbeit machen.
Und dann ist da noch der Vulkan. Kein hoher Berg, eher ein dunkler Kegel am anderen Ende der Insel, von dessen Flanken der Dunst aufsteigt. Man erzählt, er sei seit Jahrzehnten ruhig, aber in manchen Nächten könne man rotes Glimmen sehen. Der alte Mann vom Morgen sitzt jetzt auf der Pierkante, die Hände im Schoß, und blickt dorthin.
Tag 6 – Maltretonia
Der Zug rollt am Vormittag in Maltretonia ein, und schon beim ersten Schritt auf den Bahnsteig spüre ich, wie die Hitze hier zwischen den Gebäuden hängen bleibt. Keine frische Brise wie in Braadhafen, kein Platz für Wind – nur Sonne, Backstein und Asphalt, der den Schweiß auf die Stirn treibt. Die Luft riecht nach Öl, Metallstaub und gebratenen Zwiebeln von einem Stand am Ausgang.
Vor dem Bahnhof beginnt die Stadt ohne Umschweife. Breite Straßen, gesäumt von Werkshallen, Lagerhäusern und kantigen Wohnblöcken, die alle den gleichen abgewetzten Charme haben. Am Tor einer großen Werft drängen sich Menschen in blauen und grauen Overalls. Eine Sirene heult auf, und wie ein einziger Organismus setzt sich die Menge in Bewegung – ein Schichtwechsel, der nach dem Gesetz über Arbeitsverhältnisse exakt getaktet ist. Die einen gehen hinaus, andere hinein, alle mit Ausweisen um den Hals, viele mit Thermoskannen in der Hand. Zwischen den Hallen stehen Schilder, die Pausenzeiten und Lohnzuschläge für Überstunden auflisten, als wären es Wegweiser.
Ich folge einer Seitenstraße in ein Wohnviertel. Hier hängt noch die Geschichte in der Luft: alte Wandbilder von Arbeitern mit gehobenen Fäusten, rote Fahnen in Fenstern, der Lack ab, aber der Stolz noch da. In einer Eckkneipe sitzen Männer und Frauen bei Bier und Mineralwasser, ihre Gesichter gerötet von der Hitze und der Arbeit. Ich höre Gespräche über die nächsten Lohnverhandlungen, über den Streit in einer Schichtleitung, und darüber, dass man im Sommer lieber die Nachtschicht nimmt – „kühler und ruhiger, und die Überstundenzulage gibt’s obendrauf“.
Am Nachmittag stoße ich auf eine Straße, die anders wirkt. Das Kopfsteinpflaster ist uneben, Häuserfronten tragen Einschusslöcher, einige Fenster sind zugemauert. Am Anfang der Straße steht ein gelbes Schild: „D-Zone – Zugang auf eigene Verantwortung.“ Dahinter, ein halber Block weiter, blitzt Rot: ein Warnschild für eine kleine abgesperrte Z-Zone. Dahinter liegt nur ein Platz, überwuchert, mit dem dunklen Eingang eines alten Bunkers. Laut einem Mann auf einer Bank war dies vor Jahrzehnten eine Frontlinie zwischen Kommunisten und Nationalisten. Die Häuser wechselten mehrfach den Besitzer, bis am Ende die Nationalisten die Stadt hielten. Erst Jahre später, nach einem Putsch der heutigen Marschallin Alrun Amalbalde, kam der Frieden zurück – und mit ihm ein stilles Gesetz des Schweigens über jene letzte, blutige Episode.
Als die Sonne sinkt, folge ich dem Geräusch von Stimmen und Musik in eine große Halle aus Backstein. Drinnen ist es warm und voll. Auf einer Bühne stehen Gewerkschaftsfunktionäre, flankiert von einer Reihe alter Fahnen. Ein Sprecher verliest Namen – Männer und Frauen, die in den Kämpfen gefallen sind. Jeder Name wird mit einem dumpfen Schlag auf eine kleine Trommel begleitet. Neben der Bühne lodert in einer Eisenwanne ein Feuer. Die Menschen treten einzeln vor, legen Brot, Blumen oder Werkzeuge ins Feuer – einfache Gaben, die an jene erinnern, deren Namen eben verlesen wurden. Der Rauch zieht durch die Halle, vermischt sich mit dem Geruch von Schweiß und Motoröl und legt sich wie ein stiller Schleier über die Menge.
Draußen, auf dem Heimweg, wirkt die Stadt weniger laut. Nur das ferne Dröhnen der Werftmaschinen hallt durch die Straßen. Maltretonia hat den Blick nach vorn – aber in den Ritzen der Backsteinmauern sitzt eine Vergangenheit, die nicht vergessen werden will.
Tag 7 – Dunharg, Pelaic
Der Zug rollt am späten Vormittag in Dunharg ein. Die Hauptstadt des vannischen Staates Pelaic liegt an den Füßen sanfter Hügel, die sich im Süden und Südosten staffeln, während der Norden von einer weiten Seenplatte gesäumt wird. Es ist spürbar kühler als in den letzten Tagen weiter südlich; der Wind trägt den Geruch von Wasser und Harz herüber. Vom Bahnsteig aus sehe ich die Dächer der Altstadt, graue Schieferplatten und weiß getünchte Fassaden, unterbrochen von einigen moderneren Bauten aus Glas und Beton.
Der Marktplatz ist belebt, aber nicht hektisch. Zwischen den Ständen mischen sich Gerüche von geräuchertem Fisch, frisch gebackenem Brot und nassem Stein. Stimmen verweben sich zu einem ruhigen Hintergrundrauschen. Ein Feuerwehrwagen schlängelt sich durch die Menge, die Fahrerin hebt kurz die Hand zum Gruß, während ihr Beifahrer eine Meldung ins Funkgerät spricht.
In einem kleinen Café am Rand des Platzes komme ich ins Gespräch mit einem älteren Mann. Er trägt eine grobe Strickjacke und spricht langsam, mit einem singenden Dialekt. „2008, das ging alles schnell“, sagt er, als ich auf die Geschichte der Region zu sprechen komme. „Erst hieß es, die Irkanier sichern nur die Odinsmark. Zwei Tage später waren sie überall. Dunharg war ruhig, aber im Norden…“ Er verstummt kurz, deutet mit dem Kinn in Richtung Seenplatte. „Da haben sie den letzten Befehl des Imperators befolgt. Eine Bombe. Alles vorbei.“
Er erzählt weiter, wie General Shia Mae – „Landes Frau, ja“ – als erste das Steuer übernahm, gefolgt von Reexman. „Und dann kam Amalbalde. Die hat die beiden nicht rausgeworfen. Sie hat sie behalten. Für Ordnung, sagt sie. Ordnung haben wir jetzt. Freiheit auch. Aber wissen Sie –“, er lächelt dünn, „– es ist eine Freiheit, die im Takt marschiert.“
Am Nachmittag laufe ich die Hügel hinauf. Von oben breitet sich die Stadt aus wie eine Karte, die Seen glitzern im Norden, und die Straßen scheinen sich schnurgerade auf den zentralen Platz zuzubewegen, als hätten Stadtplaner hier den Kompass am Reißbrett angelegt. Auf einer Anhöhe steht ein Kriegerdenkmal, eine stilisierte Figur ohne erkennbares Geschlecht, das Schwert an der Seite, den Blick gen Norden. Die Inschrift spricht von „Einheit in Vielfalt“ – ein Motto, das in Irkanien wörtlich genommen wird, aber immer innerhalb eines Rahmens, den andere setzen.
Als die Sonne tiefer sinkt, färbt sich das Wasser der Seen golden. Es ist still, bis auf den leisen Klang eines Marschtritts in der Ferne – nicht wörtlich, nur das gleichmäßige Dröhnen von Schritten auf Pflaster, irgendwo unten in der Stadt. Vielleicht eine Patrouille, vielleicht nur Bauarbeiter auf dem Heimweg.
Aber der Rhythmus bleibt in meinem Kopf, während ich den Abstieg beginne. Er ist gleichmäßig, fast beruhigend, und doch spüre ich darin etwas Unnachgiebiges. Es ist die Freiheit, die hier nicht aus Aushandlung geboren wurde, sondern aus einer Entscheidung, die von oben kam – und seitdem gilt. Keine Abstimmungen, keine Debatten, keine schwankenden Mehrheiten. Früher waren hier Kommunisten an der Macht, dann Nationalisten. Erst wurde alles auf Linie gebracht, Stimmen geglättet, Abweichungen entfernt. Und als es keine Reibung mehr gab, wurde die Freiheit verordnet wie eine neue Straßenverkehrsordnung. Für jemanden wie mich, der aus einem Land kommt, in dem Freiheit ein fortwährender Streit ist, wirkt das zugleich befremdlich und faszinierend. Befremdlich, weil sie hier nicht erkämpft, sondern eingepflanzt wurde – faszinierend, weil sie, einmal gepflanzt, zu wachsen scheint, ohne dass jemand sie ständig rechtfertigen muss. Vielleicht liegt die Härte darin, dass man sie nicht abwählen kann. Vielleicht liegt der Trost darin, dass man es auch nicht muss.
Sivert Holmqvist
Unterwegs zwischen Kontinenten.
Beobachtend, fragend, schreibend.
Das Orginal ist zu lesen, hier